Eine unrühmliche Geschichte des ukrainischen Nationalismus Ein Anti-Kriegs-Einwurf

Politik

Einige, zu oft ausgeblendete Aspekte aus antimilitaristischer Perspektive in gebotener Kürze.

Bombenangriff in Kiew, März 2022.
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Bombenangriff in Kiew, März 2022. Foto: State Emergency Service of Ukraine (CC BY 4.0 cropped)

11. April 2022
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1. Es gibt keine Legitimation für einen Angriffskrieg. Das versteht sich eigentlich von selbst und das schliesst den von Putin nun angezettelten Krieg gegen die Ukraine mit ein. Komisch, dass man das heutzutage überhaupt betonen muss.

2. Kein Krieg fällt vom Himmel. Kriege sind immer das Resultat von ökonomischem, politischem und/ oder religiösem Machtstreben, oft begleitet von persönlicher Machtgier. Ein Putin ist vor dem Hintergrund kein Ausrutscher der Geschichte, kein historischer „Unfall“, sondern eine Konsequenz. Das macht ihn auch nicht charmanter, entschuldigt auch nichts. Ohne den Gesamtzusammenhang aber wird man Kriege nicht verstehen – und ist also dazu verurteilt, die gewalttätige Geschichte immer wieder neu zu durchleben.

3. Der Kitt, mit dem die „eigene“ Bevölkerung in den Krieg getrieben wird, mit dem also der Krieg ideologisch vorbereitet wird, heisst Nationalismus. Wer gegen Kriege ist, muss dementsprechend den ideologischen Unterbau, den Nationalismus, ablehnen. 4. Kriegführende Politik) handelt nicht irrational, sondern rational, wenn man die Grundlagen akzeptiert (kapitalistische Ausbeutung und Expansionslogik, Aufteilung der Welt in Staaten und daraus resultierender nationalistischer Konkurrenzkampf gegen andere Staaten, hierarchisierende Weltordnungs- und Wahnphantasien á la „wir sind auserwählt, unsere Interessen zählen mehr, wir haben den vorrangigen Zugang zu Rohstoffen verdient“, missionarisches Denken, aggressive Männlichkeitskonzepte). Wer von Staat, Nation, Kapitalismus und Patriarchat schweigt, der sollte auch im Ukraine-Krieg die Klappe halten.

5. Es geht in Kriegen um geostrategische Interessen (so Putin in der Ukraine um Öl, Gas, Getreide) – übrigens auch in denen, in die die NATO involviert ist. Mehr noch: die „Verteidigungspolitischen Richtlinien“ der Bundeswehr definieren bereits seit 2010 den ungehinderten Zugang zu Rohstoffen als legitimen Kriegszweck – wie will man mit einer solchen Agenda im Armeerucksack ethisch glaubwürdig gegen eine Kriegserklärung Putins agieren? Es geht der NATO im Krieg nicht um die Ukraine – diese ist nur das Spielfeld im Kampf um die globale Hegemonie, die man gegen Russland endgültig durchsetzen will, nachdem Putin dazu einen Vorwand lieferte. Nicht zuletzt geht es dabei im Grunde um einen innerkapitalistischen Konkurrenzkampf um Ressourcen.

6. Entsprechend sind Politiker – Frauen kommen hier bisher kaum vor -, die Kriege anzetteln, nicht einfach „irre“ oder „verrückt“ (die Verrücktheit müsste dann auch plötzlich vom Himmel fallen, denn meist sind diese zugegeben unsympathischen Gestalten ja solange nicht verrückt, wie man mit ihnen gute, d.h. den eigenen Interessen dienende, Geschäfte machen kann). Vergessen wir nicht: Krieg ist die Fortführung von Politik mit anderen Mitteln. Und vice versa.

7. Das einzelne Politiker überhaupt so viel Zustimmung und Macht erhalten können, hängt damit zusammen, dass die meisten Menschen diesen Herrschern zu eben dieser Macht verhelfen, weil sie sich eigene Vorteile versprechen (vgl. das 500 Jahre alte Manifest von Etienne de La Boetie, siehe. Tyrannen fallen nicht plötzlich in die Welt, sie sind ein Produkt von Interessenkämpfen.

8. „Wer hat angefangen?“ – diese Frage ist Sandkasten-Niveau, sie hilft in der derzeitigen Lage nicht weiter. Festzuhalten ist aber: von ukrainischer Seite aus ist jahrelang nichts gegen einen drohenden Krieg unternommen worden, im Gegenteil. Es ist interessant, wie gerade Linke nun die jahrelange Pro-NATO-Politik der Ukraine und die massiven Bemühungen der hochgerüsteten NATO um eine Osterweiterung „vergessen“. „Vergessen“ sind auch die kriegerischen Rückeroberungsversuche der „freien“ und „friedlichen“ und nun so unterstützenswerten Ukraine in der Donbass-Region, die laut UN über 14.000 Tote forderten.

9. Es rechtfertigt keinen Krieg, festzuhalten ist aber auch, dass 1. die NATO-Expansionspläne von Putin vor dem Hintergrund staatlicher Logik als Bedrohung betrachtet werden mussten, zumal angesichts des 20fachen Waffenarsenals der NATO gegenüber Russland und angesichts des Umstandes, dass Russland auch weltwirtschaftlich immer mehr unter Druck gerät und an den Rand gedrängt wird; und dass 2. die ukrainischen Provokationen der letzten Jahre in erster Linie einem ukrainischen nation building dienten. Ein Lesetipp dazu ist „Die Erfindung der Nation“ von Benedict Anderson. Staaten aber, siehe oben, sind nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems.

10. Der Krieg ist nicht „gesichtswahrend“ (unter Maskulinisten ist so was ja immer wichtig) zu gewinnen. Die noch unblutigste Option: die Ukraine wird neutral á la Schweiz (ein Vorschlag, den u.a. der Ex-Innen- und Überwachungsminister Otto Schily vertritt – oder zweigeteilt. Die blutigere Option: die Ukraine wird nicht mehr sein, und Russland befindet sich in einem Bürgerkrieg nach Putin. Die NATO ist so oder so ein Gewinner. Sie wird hochgerüstet, und die Militarisierung der Köpfe wird voranschreiten. Der Westen hat sich im Krieg gegen die Ukraine vorerst zusammengeschweisst. Dies allerdings mit noch ungeahnten, jedenfalls alles andere als angenehmen Folgen für eine Menschheit, deren Interessen den ausufernden Militäretats untergeordnet werden. Ganz abgesehen davon, dass die NATO für den von ihr herbeigesehnten „Epochenbruch“ allerdings auch die Gefahr eines Atomkrieges nicht scheut. Nicht nur Putin ist eine Gefahr für die Welt – die NATO ist es auch.

11. So viel Faschismus wie derzeit war seit 1945 nicht mehr in Europa. In den ukrainischen Streitkräften kämpft bereits seit 2014 ein faschistisches (und teils von der NATO ausgebildetes) Freiwilligen-Regiment, das schon vor Jahren durch massive Menschenrechtsverletzungen bekannt wurde und das beste Beziehungen zu europäischen Neonazis unterhält. Die Seiten des Asow-Regiments und ihres politischen Armes waren zeitweise bei Facebook nicht zugänglich, das hat sich nun vor dem Hintergrund des Krieges wieder geändert – der Zweck heiligt offenbar die Mittel. Vorangetrieben wird in der Ukraine derzeit eine Politik der Ethnisierung. So soll u.a. das Russische aus der Öffentlichkeit verbannt werden (während zu Zeiten der Sowjetunion in der Ukraine auch ukrainisch gesprochen werden konnte).

12. Generell zeigt sich das Ausmass des ukrainischen Nationalismus derzeit wieder deutlich. Er hat eine unrühmliche Geschichte, immerhin kämpften schon im zweiten Weltkrieg ukrainische „Freiheitskämpfer“ an der Seite der Nazis gegen die Russen. Alleine die Waffen-SS-Division „Galizien“ umfasste 22.000 ukrainische Freiwillige. Kaum irgendwo sonst hatte der Nationalsozialismus ausserhalb des deutschen Reiches in der Zivilbevölkerung so viele willige Unterstützer. Deutsche haben im Nationalsozialismus über 25 Millionen russische Menschen umgebracht. Dass die Ukraine nun offensiv Deutsche im Kampf als Freiwillige gegen Russland anwirbt (darunter haben sich auch bereits etliche Neonazis gemeldet), ist vor diesem Hintergrund mehr als nur pikant.

13. Bereits der in der Ukraine mythenumworbene „Euromaidan“-Protest 2013/ 2014 war eine stark von den Rechtsextremen betriebene Bewegung, der für die Faschisten einen neuen Aufschwung bedeutete. Bis heute gibt es, nicht zuletzt ausserhalb des Asow-Regiments, reichlich Neonazis in der Ukraine. 2019 wies Amnesty International darauf hin, dass Präsident Selenskyj kein Interesse hatte, etwa Roma vor rassistischen Angriffen zu schützen (https://www.amnesty.de/informieren/amnesty-journal/ukraine-regierung-hat-rechtsextreme-nicht-unter-kontrolle). Selenskyj traf 2019 Mitglieder der neofaschistischen, antisemitischen C14-Bewegung, die u.a. für Angriffe auf Roma-Lager verantwortlich ist (https://en.wikipedia.org/wiki/S14_(Ukrainian_group). Und noch 2022 traf sich Selenskyj mit Angehörigen der rechtsextremen, homophoben, rund 10.000 Mitglieder zählenden Bewegung „Rechter Sektor“ (zur Bewegung siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Prawyj_Sektor).

14. 2019 wurde in der Ukraine zum „Stepan Bandera Jahr“ ausgerufen, zur Erinnerung an den Nazi-Kollaborateur, der als Nationalheld verehrt wird und nach dem in den letzten Jahren grosse Strassen benannt wurden. Die intensiven Beziehungen zwischen den ukrainischen Neonazis, der Regierung und der Gesellschaft sind hier nachzulesen. Angesichts dieser Tatsachen sind die Rechtsextremen kein „Fake-Narrativ“ (der ukrainische Botschafter in Berlin, auch er übrigens bekennender Bandera-Fan). Putins Verweise auf ukrainische Faschisten haben also eine sehr reale Grundlage – auch wenn die „Entnazifizierung“ ein vorgeschobenes Argument ist, zumal auch in Russland viele Rechtsextreme aktiv sind. Einziger Vorteil der allgegenwärtigen Rechtsextremen und des überbordenden Nationalismus auf beiden Seiten: die deutschen Rechten sind echt verwirrt, welcher Seite sie sich zuschlagen sollen – so viele Angebote überall, das erschwert die Einigkeit.

15. Natürlich gibt es auch eine andere Seite der Ukraine, tatsächlich emanzipatorische Traditionen der Freiheit und des libertären Sozialismus etwa (vgl. https://www.ziegelbrenner.com/produkt/freiheit-und-gerechtigkeit-die-geschichte-der-ukraine-aus-libertaerer-sicht/. Zu wenig davon ist bekannt, weshalb ich auf dieses Buch nur verschärft hinweisen kann. Auch dieses Buch, ein Zeugnis eines antibolschewistischen Sozialismus, erschienen in der von mir sehr geschätzten Edition Nautilus, will ich nicht verschweigen: https://edition-nautilus.de/programm/erinnert-euch-an-mich-ueber-nestor-machno/.

16. Kriege lassen sich nicht mit noch mehr Waffen bekämpfen. Das nun erstmals nach 1945 ganz offiziell deutsche Waffen Russen töten sollen ist eh schräg, gelinde gesagt. Es gibt auch keinerlei Garantie, dass die Waffen am Ende in der Ukraine den – international bestens vernetzten und in der Ukraine staatlich hofierten - Neonazis in die Hände fallen. Eine sehr reale Gefahr angesichts der oben skizzierten Verbindungen. Und das wird durch die Verbindungen des CIA zu den Neonazis nicht besser. Aber Geheimdienste und NATO, das ist eh eine unselige Allianz.

17. Obwohl man noch gar nicht so genau weiss, wofür das Geld eigentlich eingesetzt werden soll, warf man nun die gigantische Summe von 100 Milliarden Euro in den Ring, die als Sondervermögen der Bundeswehr zufliessen soll. Da schon die bisher üppigen Bundeswehr-Etats wenig effizient scheinen, ist von der jetzigen Planlosigkeit, mit der Geld verschleudert wird, nichts Gutes zu erwarten, einmal abgesehen davon, dass die Losung „Frieden schaffen mit noch mehr Waffen“ noch nie aufgegangen ist. Denn friedlicher ist die Welt auch nach über 20 Jahren ununterbrochenen Bundeswehr-„Engagements“ in aller Welt nicht geworden, im Gegenteil.

18. 100 Milliarden Euro, man vergleiche diese Summe mit den deutschen Etats für Ressorts wie Gesundheit (16,03 Mrd.), Bildung und Forschung (19,36 Mrd.), Innen, Bau und Heimat (18,52 Mrd.), Familie, Senioren, Frauen und Jugend (12,16 Mrd.), Umwelt (2,7 Mrd.), Zusammenarbeit und Entwicklung (10,8 Mrd.) sowie Ernährung und Landwirtschaft (6,98 Mrd.), dann hat man eine Ahnung, was in der neuen rot-grünen Regierung – die künftig zudem jährlich 70 Milliarden Euro für Rüstung ausgeben will – zählt. Gesundheit, Bildung und Umwelt sind es jedenfalls schon einmal nicht. Wem dies nicht gefällt: https://derappell.de. Wenn schon so viel Geld da ist sollte es, aufgrund von steigenden sozialen Gegensätzen (der berühmten, immer weiter auseinanderklaffenden Schere), Klimawandel etc. doch wohl eher für einen sozial-ökologischen Umbau ausgegeben werden.

19. Wer sich nun über die SPD oder die Grünen wundert, der hat nicht nur die Geschichte der letzten 100 Jahre vergessen (z.B. die Zustimmung der Sozialdemokratie zu den Kriegskrediten, vgl. https://www.ziegelbrenner.com/produkt/sozialdemokratie-krieg-und-frieden-die-stellung-der-spd-zur-friedensfrage-von-den-anfaengen-bis-zur-gegenwart/), sondern auch der letzten gut 20 Jahre. Der NATO-Krieg gegen Serbien (übrigens völkerrechtswidrig wie der Krieg Putins) war immerhin von deutscher Seite aus ein rot-grüner Krieg. Noch beunruhigender ist, dass nicht nur das Geschichtsbewusstsein auf den Hund gekommen ist, sondern sich kaum jemand mehr aus dem rot-grünen Milieu ernsthaft über die Kriegstreiberei aufzuregen scheint. Unverhohlen tobt die SPD-nahe Friedrich Ebert-Stiftung etwa, dass Putin die NATO-Erweiterung und die „europäische Sicherheitsordnung“ nun „untergraben“ will.

20. Die Grünen haben nun als erklärtes Ziel: „Russland ruinieren“ (Baerbock). Da holt man nun das Gas lieber aus Katar – einem autoritär-patriarchalen Staat, der auf Seiten des blutigen, hierzulande kaum wahrgenommenen Bürgerkrieges im Jemen islamistische Gruppen unterstützt und den Krieg damit seit Jahren regelrecht „anheizt“ (Die Presse. 3.9.2020). Bisher gab es dort weit über 200.000 Tote (https://www.deutschlandfunk.de/jemen-krieg-huthi-katastrophe-100.html ). „Viele islamistische Terroristen leben seit Jahren trotz internationaler Proteste unbehelligt in Katar… Die katarische Regierung räumt ein, die palästinensisch-islamistische Terrororganisation Hamas zu unterstützen ( https://de.wikipedia.org/wiki/Katar-Krise_2017_bis_2021). Aber Katar und Jemen sind ja weit weg, im Gegensatz zu der Ukraine und Russland…

21. Warum schlagen sich so viele in einem Land, das nach 1945 aus Gründen starke antimilitaristische Strömungen hatte, nun derart offensiv auf die Seite der rot-grünen Kriegsführungslinie? Es ist eine noch unbewiesene These: ich habe in meinen Publikationen darauf hingewiesen, dass gegenüber dem Coronavirus seit 2020 ein innerer Krieg erklärt wurde, der auch von den Medien massiv mit inszeniert wurde (https://www.ziegelbrenner.com/produkt/corona-gegenwart-und-zukunft-unter-dem-virus/). Im Pandemie-Regime wurde dabei auch die Staatsgläubigkeit unzähliger vormals scheinbar „kritischer“ Menschen offenbar. Die – von Ausrottungsphantasien begleitete - Kriegsanalogie, die Medieninszenierung und die Staatsfixierung von 2020/ 2021 scheinen mir die gegenwärtige Kriegszustimmung mit ermöglicht zu haben.

22. Warum soll oder muss mensch sich im Interessenkampf zwischen zwei Nationalstaaten nun überhaupt auf eine Seite schlagen? Warum verteilt eine zivilgesellschaftliche Organisation wie „Campact“ (Online-Petitionen u.a. gegen Atomenergie) nun Aufkleber in den Nationalfarben? Warum nun „Solidarität mit der Ukraine“, wie es bis weit in die Kreise der Impflings-Linken hineinschallt? Ja, es sind auffallend exakt jene, die während der Pandemie ständig „Solidarität“ einforderten (und dabei aggressiv Menschen ausschlossen, also ein sehr exklusives Solidaritätsverständnis an den Tag legten), die nun wieder besonders entschieden parteiergreifend sind.

23. „Solidarität mit der Ukraine“, das ist immer auch Solidarität mit der NATO, denn beides ist untrennbar verbunden. Ein Lesetipp zur NATO-Geschichte: https://www.ziegelbrenner.com/produkt/die-nato-anatomie-eines-militaerpaktes/. In einem Land, das einst eine grosse Friedensbewegung hatte (vgl. z.B. https://www.ziegelbrenner.com/produkt/was-nun-die-friedensbewegung-nach-der-raketenstationierung/) ist daran zu erinnern, dass z.B. das „verbündete“ US-Militär grundsätzlich bei Auslandseinsätzen im Voraus eine uneingeschränkte Straflosigkeit von US-Soldaten zur Bedingung macht. Wie verträgt sich ein solcher Blankoscheck mit vermeintlich „humanitären“ Anliegen? Die Antwort kann nur lauten: weder Putin, noch NATO!

24. Wer die Medien beobachtet kann sehen, wie um die Unterstützung der ukrainischen Kriegsflüchtlinge dort ein regelrechter Hype ausgebrochen ist. Warum lassen sich aber Flüchtlingsinitiativen vor diesen Karren spannen, anstatt freien Zugang auch für Geflüchtete aus dem Mittelmeer zu fordern? Wer erinnert sich noch daran, wie Geflüchtete aus Belarus Anfang 2022 in Polen festhingen und einem staatlichen Machtkampf ausgeliefert wurden? Wer erinnert sich an das schäbige Gerangel um Aufnahmekontingente für ein paar Tausend Geflüchtete nach dem Durchmarsch der Taliban in Afghanistan? Warum besetzen Linke nun Häuser nicht einfach für wohnungssuchende Menschen, nicht einfach für Geflüchtete, nein, für „ukrainische Flüchtlinge“? Offenkundig gibt es nun Geflüchtete erster und zweiter Klasse, und je mehr ukrainische Geflüchtete unterstützt werden (was an sich ja positiv ist), umso mehr werden nicht-weisse Geflüchtete (auch aus der Ukraine kommende) schikaniert und diskriminiert (https://www.proasyl.de/news/angriffskrieg-auf-die-ukraine-rassismus-auf-der-flucht/).

25. Die Ukraine nimmt alle Männer zwischen 18 und 60 Jahren in Geiselhaft. Sie dürfen das Land nicht verlassen. Nur Frauen und Kinder dürfen raus. Wo bleibt der Aufschrei dagegen, wie selbstverständlich Menschen, ob sie wollen oder nicht, als Kriegsfutter und Material eingeplant werden? Wo bleibt der Aufschrei jener, die in Deutschland doch sonst immer auf Menschenrechte verweisen? Warum endet hier das sonst immer wieder betonte Mitgefühl gegenüber der Zivilbevölkerung in kriegerischen Auseinandersetzungen? Warum nun stattdessen überall an den Rathäusern blau-gelbe Flaggen (auch in Italien z.B., so bei der Kinder- und Jugendbuchmesse in Bologna)? Zynisch gefragt: weil es endlich wieder gegen Russland geht? Anders kann ich mir diese derart einseitige Parteinahme kaum erklären.

26. In dem Masse, in dem die Solidarität mit der Ukraine eingefordert wird, schwindet sie mit allem, was als „russisch“ identifiziert wird. Das ist natürlich kein Zufall, sondern das eine Folge des anderen. Logische Konsequenz eines „entweder/ oder“. In der - laut Eigenwerbung - „Zeitung für kluge Köpfe“, der FAZ, wütet ein Leser mit voller Namensnennung (sich also wohl der Volksmeinung sicher fühlend) am 20.3., man könne doch für „jeden Russenskalp eine Prämie zahlen“. Das ist in den „seriösen“ Medien zu lesen – ich erspare mir hier Zitate aus diversen Internet-Seiten.

27. Menschen in Deutschland trauen sich kaum noch, russisch zu sprechen (https://www.nachdenkseiten.de/?p=81936). Sie werden beschimpft und bedroht, und es nutzt ihnen wenig, dass die meisten von ihnen gegen den Krieg sind (Der Spiegel, 11/ 2022). Eine antirussische Volksgemeinschaft aber ist immer noch vor allem eines: nämlich Volksgemeinschaft. Wie kann es angehen, dass der Präsident des deutschen Schriftstellerverbandes PEN das Verbot aller russischen Literatur fordert (von da ist es nicht weit bis zur Bücherverbrennung)? Warum entschuldigt sich ein Dirigent, wenn er das Werk eines russischen Komponisten spielt (so geschehen in Berlin bei einem Schostakowitsch-Konzert)? Warum wird russischen Menschen nun überall ein „Gegen Putin“-Bekenntnis abgefordert? (übrigens wählen die Russlanddeutschen zu 15-17% die AfD – fordert man ihnen deshalb ein Bekenntnis gegen den Faschismus ab?)

28. Schon vor Putin gab es in der damaligen Sowjetunion Oppositionsbewegungen (vgl. https://www.ziegelbrenner.com/produkt/das-unterirdische-feuer-texte-der-russischen-gewerkschaftsopposition-smot-sammlung-von-artikeln-aus-informations-bulletin-und-poiski/). Wer regelmässig Nachrichten liest oder sieht weiss: seit Jahren gibt es in Russland auch eine massive Kritik an Putin. Wer nun alles Russische meint boykottieren zu müssen, der erweist Putin allerdings einen Bärendienst, denn da wird die Opposition gleich mit entsorgt. Ein Beispiel von linker Putin- und Faschismuskritik und deren Verfolgung gibt der ehemalige Diplomat Nikolai Platoschkin in dieser deutschsprachigen Aufzeichnung: https://www.youtube.com/watch?app=desktop&v=O9F4I0ZbqAg&cbrd=1 (auch wenn er irrt mit seiner Aussage, dass rätoromanisch in der Schweiz nur eine Sprache der Wissenschaftler sei…).

29. Die einzige emanzipatorische Position scheint mir darin zu bestehen, sich eben nicht auf eine (immer zugleich nationalistische) Seite zu schlagen, sondern die antimilitaristischen Kräfte in der Zivilbevölkerung und die Deserteure beider Seiten zu unterstützen. Jeder Nationalismus (russisch, ukrainisch…) ist dabei selbstverständlich ebenso abzulehnen wie die Osterweiterung der NATO. Nicht Staaten – oder Staatsangehörige – sind zu unterstützen, sondern Menschen. Diese entschieden antimilitaristische Haltung beinhaltet auch einen Generalstreik gegen den Krieg (siehe die über 100 Jahre alte Idee von Gustav Landauer, vgl. https://www.ziegelbrenner.com/produkt/nation-krieg-und-revolution/) innerhalb aller kriegführenden Staaten, mithin eine umfassende Verweigerung gegen den Krieg. Das schliesst ein, jene Kräfte zu einen, mit denen wir gemeinsam „verrückt“ (gemessen an den oben skizzierten Logiken) sein können, „um gegen den Wahnsinn der bestehenden Herrschaftsordnung zu bestehen“, wie es Jonathan Eibisch schrieb (https://www.untergrund-blättle.ch/gesellschaft/panorama/georges-sorel-ukraine-krieg-bibliothek-6936.html). Gerade zu Redaktionsschluss bekam ich noch den Hinweis auf ein Papier zur Ukraine aus Sicht – marginalisierter – ukrainischer Anarchist*innen, auf das ich gerne verweise: https://wolfwetzel.de/index.php/2022/03/30/der-krieg-und-die-anarchistinnen-in-der-ukraine/?fbclid=IwAR2pRs_v3K5IviQ9tlz4OBcWs-qAdowhX4VsCpZ8pFg2fEF6ssF_9rYgDI4

30. Eine antimilitaristische Kritik an Militär und Krieg müsste sich dabei auch mit den globalen Klimakämpfen verbinden, denn einer der grössten Klimakiller ist der Krieg, samt der Waffenproduktion (oder wird es demnächst klimaneutrale Waffen geben, versehen mit dem Öko-Siegel der kriegführenden Grünen?). Die Klimakatastrophe ihrerseits wird weit mehr Menschen auf die Flucht treiben als es jetzt in der Ukraine sind. Das ist wirklich verrückt: Waffen vernichten Klima vernichten Menschen vernichten Ressourcen erzeugen neue Kriege um Ressourcen vernichten Klima… Wann wird diese Spirale endlich durchbrochen?

Der Ziegelbrenner